Aspekte der diplomatischen Praxis um 1700

Aspekte der diplomatischen Praxis um 1700

Organisatoren
Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.11.2019 - 15.11.2019
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Von
Dominik Schneider, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Julius Maximilians Universität Würzburg

Die Vorträge des Workshops lassen sich in zwei thematische Blöcke fassen. Im ersten Block (Anuschka Tischer, Regina Stuber und Philip Beeley) wurde die Genese der modernen Diplomatieforschung skizziert sowie die Vielzahl der Möglichkeiten dieser Disziplin für die gesamte Frühneuzeitforschung herausgestellt. Im zweiten Block (Ricarda Vulpius und Tilman Plath) wurde der Fokus dezidiert auf das zaristische Russland und dessen Fremd- und Eigenwahrnehmung gelegt.

ANUSCHKA TISCHER (Würzburg) eröffnete den Workshop mit einem Vortrag zur Diplomatie um 1700. Sie legte den aktuellen Forschungsstand sowie die Perspektiven dar. Dabei schlug sie den Bogen von einer vermeintlichen Krise der Diplomatiegeschichte zu Beginn der Jahrtausendwende hin zu einem heute erneut zentralen Forschungsfeld. Das ehemalige Primat der Außenpolitik wurde von zeitgemäßeren Konzepten abgelöst. Tischer verwies darauf, dass die Frühe Neuzeit die Periode der Staatenbildung war und dass handelnde Akteure nicht mehr retrospektiv aus der Perspektive „fertiger“ Staaten betrachtet und bewertet werden. Frühneuzeitliche Herrschaft wird in der aktuellen Forschung als ein dynamisch-kommunikativer Prozess betrachtet, was sich in der zeitgenössischen Diplomatie widerspiegelte. Dieser fundamentale Wandel der Ausrichtung der Diplomatiegeschichte verlangte nach einer Neuinterpretation der Quellen, was interessante Ansätze für zahlreiche historische Disziplinen bot. Die Bellizität der Epoche und die damit verbundenen Friedenskongresse sowie die Errichtung permanenter Vertretungen an den Fürstenhöfen schufen eine beachtliche Anzahl an Quellen, deren Auswertung neue Ergebnisse lieferten und die Disziplin nachhaltig veränderte.

REGINA STUBER (Würzburg) stellte einen Aspekt aus dem von der DFG geförderten Projekt „Multiple und transterritoriale Loyalitätsbindungen als Strukturelement der diplomatischen Praxis um 1700: Johann Christoph von Urbich (1653-1715) im Beziehungsgeflecht zwischen dem Heiligen Römischen Reich, Dänemark und Russland“ vor. Urbichs langjährige Verortung in Wien im Dienst verschiedener Höfe führte zu diversen, mitunter konkurrierenden Loyalitätsbeziehungen. In seiner Funktion als russischer Gesandter, die er von 1707 bis 1712 innehatte, sah sich Urbich gegenüber dem russischen Hof mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, die ihn nötigte, über die Aktivierung eigener Netzwerke zumindest Teilerfolge vorzuweisen. Diese Situation veranschaulichte die Vortragende am Beispiel der Kandidatur eines Thronprätendenten für die polnische Krone nach dem Altranstädter Friedensabkommen (1706). Sowohl aus Sicht Zar Peters I. wie aus Sicht der polnischen Opposition zu Stanislaus Leszczyński war die polnische Krone vakant geworden. Urbich stand u.a. in einer Loyalitätsbeziehung zum sächsischen Kurfürsten Friedrich August wie auch zu dessen ehemaligem polnischen Vizekanzler Jan Szembek. Dieses komplexe Loyalitätskonstrukt begünstigte zum einen den Aufstieg Urbichs zu einem bedeutenden Diplomaten im Großen Nordischen Krieg, zum anderen bewirkte es die besondere Fragilität seiner Position. Diese spezifische prekäre Situation, in der sich der Akteur konstant bewegte, wich deutlich von dem vermeintlichen Loyalitätsgestus eines Diplomaten ab und erschwert eine Einordnung in bestehende Modelle wie etwa Hillard von Thiessens Modell einer „Diplomatie vom type ancien“.

Einen Vortrag zum europäischen Russlandbild am Beginn des 18. Jahrhunderts präsentierte TILMAN PLATH (Greifswald). Er beschäftigte sich mit dem Werk Das veränderte Russland (3 Bände, erschienen 1721, 1739 und 1740) von Friedrich Christian Weber, der sich von 1714 bis 1719 als Gesandter des Kurfürstenhauses Hannover am Hof des Zaren Peter I. aufhielt. Das Buch verfasste Weber im Auftrag des hannoverschen Hofes. Die tagebuchartige Form der Aufzeichnungen sowie das Fehlen einer inhaltlichen Gliederung erschweren die detaillierte Analyse des Werkes. Im Fokus des Vortrages stand die Webersche Darstellung der Reformpolitik Peters I., insbesondere dessen Sicht auf die von Peter I. forcierte Merkantilismuspolitik und deren geringe Akzeptanz im überwiegenden Teil der russischen Bevölkerung. Ein weiterer Aspekt war die von Weber formulierte Kritik an der Wahl Sankt Petersburgs als zentraler Handelsstützpunkt des Russischen Reiches.

Die Selbststilisierung Russlands durch Peter I. und seinen Vertrauten und Diplomaten Petr Šafirov im Ringen um internationale Anerkennung stellte RICARDA VULPIUS (München) dar. 1717 verfasste Šafirov verfasste zusammen mit Peter I. eine Streitschrift, um Russlands Handeln im Großen Nordischen Krieg zu legitimieren. Der Text orientierte sich an der in Westeuropa gängigen Form des Manifestes und stellte in dieser Form für das Russische Reich eine Novität dar. Diese Novität zeigt sich bereits auf sprachlicher Ebene hinsichtlich der Verwendung von Neologismen, um Sachverhalte des Völkerrechts sowie die eigene Zugehörigkeit zu den zivilisierten Völkern zu formulieren. Es handelt sich um die Neologismen političnyj und ljudkost‘ bzw. ljudskost‘ für Zivilisiertheit, Menschlichkeit. Auf politischer Ebene sollte damit Russlands Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenen zivilisierten europäischen Völkern, die das Völkerrecht respektierten, zum Ausdruck gebracht werden. Die bis dahin gängige Stilisierung Polen-Litauens als Vorposten der „Zivilisiertheit“ gegenüber dem „barbarischen“ Russischen Reich sollte der Vergangenheit angehören. Die Streitschrift war als stilbildendes Dokument von zentraler Bedeutung für den russischen Völkerrechtsdiskurs, zumal gleichzeitig auch die Verbreitung von völkerrechtlicher Literatur im Russischen Reich gefördert wurde.

PHILIP BEELEY (Oxford) untersuchte die Bedeutung der Dechiffrierkunst in der britischen Diplomatie im späten 17. Jahrhundert. Er verwies auf die Rolle des Mathematikers John Wallis (1616-1703) bei der Dechiffrierung abgefangener Nachrichten. Diese Form der Nachrichtengewinnung aus abgefangenen Briefen nahm unter Wilhelm III. sprunghaft zu, was wiederum zu einem Anwachsen von Wallis‘ Auftragspensum führte. Trotz Wallis‘ immer wichtiger werdender Rolle bei der Dechiffrierung von politischen Nachrichten stagnierte jedoch seine persönliche Karriere. Wallis war, wie Beeley ausführte, schlicht Opfer seines eigenen Erfolgs geworden, galt er doch als „des Prinzen Juwel“. Eine Fortführung seiner Dechiffriertätigkeit in einem hohen Amt der anglikanischen Kirche hätte als unschicklich gegolten. Der Vortragende skizzierte am Fall Wallis‘ den Aufbau und die Funktionsweise eines nachrichtendienstlichen Netzwerks sowie dessen Einfluss auf die Politik.

CHRISTOPH KAMPMANN (Marburg) verwies in seinem Resümee auf die vielfältigen Möglichkeiten der diplomatiegeschichtlichen Forschung für den Bereich Mittel- und Osteuropas, insbesondere für die Epoche um 1700. Besonders die Methoden der Gesellschafts-, Kultur-, Gender- und Wirtschaftsgeschichte haben ein großes Potential, wenn sie auf mikropolitische Prozesse der Friedensstiftung und der Entstehung von Entscheidungsprozessen angewandt werden. Zudem verwies er auf Parallelen zwischen Urbich und Wallis. Einerseits wurden multiple Loyalitätsverhältnisse immer weniger toleriert, andererseits waren Herrscher auf jene gut vernetzten Akteure in besonderem Maße angewiesen. Gerade deswegen stellt der politische Nachlass Urbichs einen Glücksfall für die Historiographie dar. Der zweite Block zeigte die Funktionsweise von Wissenspraktiken und Public Diplomacy in der Frühen Neuzeit. Das pejorative Bild der russischen Bevölkerung sowie die Hervorhebung der Defizite aus der Sicht eines Hannoveraner Diplomaten kontrastieren mit der Selbststilisierung Peters I. als Mitglied der „zivilisierten“ Völker Europas.

Konferenzübersicht:

Anuschka Tischer (Würzburg): Diplomatie um 1700: Forschungsstand und Perspektiven

Regina Stuber (Würzburg): Der Nachlass des Diplomaten Johann Christoph von Urbich (1653-1715): Ein Beleg für multiple Loyalitäten und Strategien als gängige Praxis?

Tilman Plath (Greifswald): Wandel durch Handel? Das „veränderte Russland“ des Diplomaten Friedrich Christian Weber und die Rolle des Handels

Ricarda Vulpius (München): Kriegslegitimation als Diplomatieoffensive. Zar Peter I. und Petr Šafirov im Ringen um Russlands internationale Anerkennung

Philip Beeley (Oxford): „Des Prinzen Juwel“. Diplomatie und Dechiffrierkunst in der britischen Politik des späten 17. Jahrhunderts

Christoph Kampmann (Marburg): Resümee


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